Oder die Macht des ersten Eindrucks!
Stellen Sie sich vor, Sie betreten einen Elektronikmarkt auf der Suche nach einem neuen Fernseher. Im Eingangsbereich präsentiert sich ein Premium-Modell für 3.500 Euro. Direkt daneben steht ein „günstigeres“ Modell für 1.800 Euro. Plötzlich erscheint Ihnen der Preis von 1.800 Euro erstaunlich attraktiv – obwohl Sie ursprünglich nur 1.000 Euro ausgeben wollten. Was Sie in diesem Moment erleben, ist einer der faszinierendsten Effekte der menschlichen Psychologie: der Ankereffekt.
Der Ankereffekt, erstmals 1974 von den Psychologen Amos Tversky und Daniel Kahneman wissenschaftlich beschrieben, gehört zu den robustesten und einflussreichsten kognitiven Verzerrungen des menschlichen Denkens.
In ihrer bahnbrechenden Studie demonstrierten sie diesen Effekt mit einem bemerkenswerten Experiment: Sie ließen Probanden ein Glücksrad drehen, das manipuliert war und entweder bei 10 oder bei 65 stehen blieb. Anschließend sollten die Teilnehmer schätzen, wie viel Prozent der afrikanischen Länder Mitglied der Vereinten Nationen sind. Erstaunlicherweise lag der Durchschnitt der Schätzungen bei der Gruppe mit der 10 bei 25 Prozent, während die Gruppe mit der 65 im Durchschnitt 45 Prozent schätzte.
Diese Studie zeigt, wie stark unser Denken von äußeren Reizen beeinflusst wird – selbst dann, wenn sie keinen logischen Zusammenhang mit der eigentlichen Fragestellung haben. Doch warum passiert das? Warum klammert sich unser Gehirn an einen zufälligen Anker, obwohl wir rational wissen, dass er irrelevant sein könnte?
Die Antwort liegt in der Art und Weise, wie unser Verstand Informationen verarbeitet. Der Ankereffekt basiert auf einer kognitiven Verzerrung, die unser Gehirn dazu bringt, neue Informationen immer im Kontext der ersten wahrgenommenen Information zu bewerten. Dieser anfängliche Bezugspunkt – der Anker – dient als mentale Orientierungshilfe, um komplexe Entscheidungen zu vereinfachen. Das klingt praktisch, kann uns aber auch in die Irre führen.
Ein Grund für diesen Effekt ist unsere menschliche Tendenz, kognitive Energie zu sparen. Anstatt alle Möglichkeiten objektiv zu analysieren, greifen wir intuitiv nach dem nächstbesten Orientierungspunkt. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Anker logisch oder zufällig ist – unser Verstand baut darauf auf und verzerrt die Wahrnehmung.
Im Alltag funktioniert der Ankereffekt oft subtil, aber verlässlich. Ein hoher Einstiegspreis, wie im Beispiel des Elektronikmarkts, setzt den Maßstab, der selbst dann wirkt, wenn wir uns aktiv dagegen wehren. Plötzlich erscheint ein Preis von 1.800 Euro als „günstig“, obwohl unser ursprüngliches Ziel deutlich darunter lag.
In Verhandlungen entfaltet der Ankereffekt eine noch größere Wirkung. Er beeinflusst nicht nur, wie wir Angebote bewerten, sondern kann auch die gesamte Dynamik der Verhandlung prägen.
Wer den ersten Anker setzt, lenkt die Richtung des Gesprächs und zwingt sein Gegenüber, auf dieser Basis weiterzuverhandeln – oft, ohne dass diese Manipulation bewusst wahrgenommen wird. Doch der Ankereffekt ist kein unausweichliches Schicksal. Wer ihn versteht, kann sich nicht nur davor schützen, sondern ihn auch gezielt als strategisches Werkzeug einsetzen.
Der Ankereffekt als Verhandlungsinstrument
Wer es versteht zu Ankern bzw. den Ankereffekt nutzt, erkennt schnell, dass er in Verhandlungen weit mehr ist als eine psychologische Randerscheinung. Hier wird der Effekt oft bewusst eingesetzt, um die Wahrnehmung und Entscheidungsfindung der Gegenseite zu lenken. Der erste Anker – sei es ein Preis, eine Zahl oder eine Forderung – wirkt wie ein unsichtbarer Regisseur, der den Rahmen der Diskussion festlegt.
Ein geschickt gesetzter Anker kann dabei den gesamten Verlauf einer Verhandlung beeinflussen. Nehmen wir eine Vertragsverhandlung als Beispiel: Eine Partei startet mit einer Forderung, die bewusst hoch angesetzt ist. Diese erste Zahl ist nicht unbedingt realistisch, sondern strategisch gewählt. Sie gibt den Maßstab vor, an dem alle weiteren Angebote gemessen werden. Selbst wenn die Gegenseite versucht, den Anker zu ignorieren, bleibt er ein unterschwelliger Bezugspunkt, der das Denken und Handeln prägt.
Doch der Ankereffekt ist nicht nur ein Werkzeug der Manipulation. Er kann auch dabei helfen, die eigenen Ziele klarer zu formulieren und die Verhandlung in eine gewünschte Richtung zu lenken. Wer den ersten Schritt macht, demonstriert Selbstbewusstsein und signalisiert, dass er oder sie bereit ist, die Kontrolle zu übernehmen. Dieser Eindruck kann entscheidend sein, denn in Verhandlungen geht es nicht nur um Zahlen – es geht auch um Macht, Vertrauen und das Gefühl, auf Augenhöhe zu agieren.
Gleichzeitig birgt der Ankereffekt Risiken. Ein schlecht gewählter Anker – etwa ein übertrieben hoher oder unrealistisch niedriger Vorschlag – kann das Vertrauen der Gegenseite erschüttern und die Verhandlung ins Stocken bringen. Daher ist es entscheidend, den Anker so zu setzen, dass er sowohl ambitioniert als auch glaubwürdig wirkt.
Wie Sie den Ankereffekt in Verhandlungen strategisch nutzen
Um den Ankereffekt in Verhandlungen erfolgreich einzusetzen, bedarf es einer durchdachten Strategie und eines feinen Gespürs für die Situation. Die folgenden Prinzipien helfen Ihnen dabei, dieses psychologische Werkzeug gezielt und ethisch einzusetzen.
Der erste und vielleicht wichtigste Grundsatz lautet: Seien Sie der Erste, der eine Zahl nennt. Entgegen der traditionellen Verhandlungsweisheit, die empfiehlt, das erste Angebot der Gegenseite abzuwarten, kann ein gut gewählter Erstanker Ihnen einen entscheidenden Vorteil verschaffen. Dieser Anker sollte jedoch nicht willkürlich gewählt sein. Er muss sorgfältig kalkuliert werden, um sowohl ambitioniert als auch vertretbar zu erscheinen.
Ein weiterer entscheidender Aspekt ist die Vorbereitung. Bevor Sie in eine Verhandlung gehen, sollten Sie nicht nur Ihren idealen Anker festlegen, sondern auch dessen Begründung. Die Macht des Ankers verstärkt sich erheblich, wenn Sie ihn mit überzeugenden Argumenten und sachlichen Fakten untermauern können. Ein Anker ohne fundierte Begründung verliert schnell an Wirkung und kann sogar kontraproduktiv sein.
Dabei spielt auch die Art der Präsentation eine wichtige Rolle. Ein Anker wirkt am stärksten, wenn er mit Selbstverständlichkeit und Überzeugung vorgebracht wird. Zögern oder Unsicherheit können die Wirkung des Ankers abschwächen. Präsentieren Sie Ihren Anker daher mit ruhiger Bestimmtheit – nicht als Verhandlungsposition, sondern als gut durchdachten Ausgangspunkt.
Besonders effektiv ist der Ankereffekt, wenn Sie ihn mit konkreten Vergleichswerten kombinieren. Wenn Sie beispielsweise ein Gehalt verhandeln, können Sie Branchendurchschnitte, Marktdaten oder vergleichbare Positionen als zusätzliche Anker einbringen. Diese multiplen Ankerpunkte verstärken sich gegenseitig und schaffen einen breiteren Bezugsrahmen für die Verhandlung.
Doch auch beim strategischen Einsatz des Ankereffekts gilt es, Augenmaß zu bewahren. Ein zu extremer Anker kann die Verhandlungsatmosphäre vergiften und das Vertrauen der Gegenseite nachhaltig beschädigen. Der ideale Anker liegt in jenem schmalen Bereich, der Ihr Gegenüber zwar herausfordert, aber nicht vor den Kopf stößt. Er sollte ambitioniert genug sein, um Spielraum für Zugeständnisse zu lassen, aber nicht so extrem, dass er als unseriös wahrgenommen wird.
Beachten Sie auch, dass der Ankereffekt keine Einbahnstraße ist. Auch Ihr Verhandlungspartner wird versuchen, Anker zu setzen. Die Kunst besteht darin, fremde Anker zu erkennen und sich ihrer Wirkung bewusst zu sein. Eine effektive Gegenstrategie kann sein, den gesetzten Anker aktiv infrage zu stellen und alternative Bezugspunkte einzubringen. Dies erfordert mentale Stärke und die Fähigkeit, sich von vorgegebenen Rahmen zu lösen.
Den Ankereffekt in komplexen Verhandlungssituationen meistern
Besonders anspruchsvoll wird der Einsatz des Ankereffekts in Verhandlungen, die über einzelne Zahlen oder Preise hinausgehen. Denken Sie etwa an komplexe Vertragsverhandlungen, bei denen multiple Faktoren wie Lieferzeiten, Qualitätsstandards und Zahlungsbedingungen gleichzeitig verhandelt werden. Hier entfaltet sich die wahre Kunst des Ankerns: die Fähigkeit, mehrere strategische Ankerpunkte so zu setzen, dass sie sich gegenseitig verstärken.
Eine bewährte Strategie ist das „Anker-Splitting“. Dabei setzen Sie nicht einen dominanten Anker, sondern verteilen Ihre Ankerpunkte geschickt über verschiedene Verhandlungsaspekte. In Gehaltsverhandlungen könnte dies bedeuten, neben dem Grundgehalt auch bei Boni, Urlaubstagen oder flexiblen Arbeitszeiten gezielte Anker zu setzen. Diese Vorgehensweise erweitert Ihren Verhandlungsspielraum und schafft multiple Ausgleichsmöglichkeiten.
Die Kunst liegt dabei in der ausgewogenen Orchestrierung dieser verschiedenen Anker. Ein zu aggressives Ankern in allen Bereichen kann die Verhandlung überlasten und das Gegenüber in eine Abwehrhaltung drängen. Stattdessen empfiehlt sich eine differenzierte Herangehensweise: Setzen Sie in den für Sie wichtigsten Bereichen starke Anker, während Sie in anderen Aspekten mehr Flexibilität signalisieren. Diese Balance ermöglicht es Ihnen, die Verhandlung gezielt zu steuern, ohne die Atmosphäre zu belasten.
Diese differenzierte Herangehensweise erfordert jedoch ein besonders feines Gespür für die Signale Ihres Gegenübers und die Bereitschaft, Ihre Ankerstrategie flexibel anzupassen. Beobachten Sie genau, wie Ihr Verhandlungspartner auf verschiedene Anker reagiert und justieren Sie entsprechend nach. Denn gerade in komplexen Verhandlungssituationen zeigt sich: Der Erfolg liegt nicht in der Zahl der gesetzten Anker, sondern in ihrer präzisen Abstimmung auf die Dynamik der Verhandlung.