Samstag morgen beim Bäcker. Die Schlange der Kunden vor mir ist ziemlich lang, während der Gesichtsausdruck der zwei Verkäufer:innen hinter der Theke genervt bis resigniert ist. Gefühlt kann es sich nur noch um Stunden handeln bis Laugenbrötchen und Co. an meinen Frühstückstisch kommen.
Beim Blick durch den Laden fällt mir ein Schild an der Kasse auf mit dem Hinweis: „Da uns Fachpersonal aufgrund von Kündigungen und Corona-Erkrankungen fehlt, bitten wir die langen Wartezeiten zu entschuldigen.“ Spannend, denke ich. Irgendwie steht diese Situation sinnbildlich für ganz Deutschland.
Großer Frust in Deutschlands Belegschaft?
Im Urlaub las ich nämlich eine Studie des Unternehmens Personio die Mitarbeitende und Personalverantwortliche zu den Folgen der Corona-Krise befragt hat. Das Ergebnis: 45 % der Arbeitnehmer:innen wollen in den nächsten 6 oder 12 Monaten den Job wechseln.
Diese Aussage wird vom Gallup-Institut noch mit folgender Erkenntnis untermauert: Derzeit sei die Abwanderungsbereitschaft in Deutschland sogar höher als in den USA, in denen häufiger Jobwechsel zum grundsätzlichen Gefüge im Arbeitsmarkt gehört. Während in der USA 10% der Arbeitnehmenden über einen Jobwechsel nachdenken, sind es hierzulande aktuell 14% bei den Arbeitnehmenden. Hinzu kommt, dass bald auch noch eine ganze Generation von Baby-Boomern den Arbeitsmarkt verlassen wird, weil sie das Rentenalter erreicht hat. Führungskräfte, Unternehmenslenker und Co. sollten diese Zahlen alarmieren.
Und um der Realität noch mehr ins Auge zu schauen, betrachten wir uns noch den aktuellen Gallup-Engagement-Index: Lediglich 17 % der Arbeitskräfte haben eine hohe emotionale Bindung an ihren Arbeitgeber. 69 % der Arbeitnehmer:innen fühlen sich hingegen nur wenig verbunden und bei 14 % besteht überhaupt keine Verbundenheit. Gallup schätzt, dass sich die volkswirtschaftlichen Kosten durch fehlende Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter im Jahr 2021 auf rund 93 bis 115 Milliarden Euro beziffern lassen.
Die neue „Sinngesellschaft“
Die Möglichkeit zum Innehalten während den letzten zwei Jahre haben viele genutzt, um über ihre Arbeits- und Lebensziele nachzudenken. Und die Frage: „Wofür mache ich das eigentlich alles?“ wird aktuell von immer mehr Menschen gestellt. Hinzu kommen neu entdeckte Vorzüge wie Kurzarbeit (ja, richtig gelesen Kurzarbeit – man sollte es nicht meinen), ortsungebundenes arbeiten mit mehr Zeit für die Familie und dem Bewusstsein, dass weniger irgendwie doch mehr ist.
Richard David Precht beschreibt es in seinem neuen Werk „Freiheit für alle“ ungefähr so: „Vollbeschäftigung ist schon lange nicht mehr der Jackpot, den es zu knacken gilt, sondern Selbstverwirklichung. Deshalb kommt es bei der Arbeit auch immer mehr auf die Qualität und die genauen Umstände des Arbeitens an. Denn aus der Erwerbsgesellschaft wie wir sie bisher kannten, wird gerade eine Sinngesellschaft.“
Ob Bäckerei-Inhaber oder Konzernlenker: Wir müssen es beachten!
Will ein Unternehmen, egal ob Bäckerei oder Großkonzern auch in Zukunft wirtschaftlich erfolgreich agieren, dann wird es nicht drum herum kommen die Haltung und den Unternehmensstil an den Bedürfnissen der Mitarbeitenden zu orientieren bzw. sie so einzubinden, dass der Sinn des Tun´s immer nachvollziehbar ist.
Dafür braucht es meiner Meinung nach Führungskräfte, die mindestens ein Drittel ihrer Zeit tatsächlich mit Führung verbringen und diese auch durch Coaching und Mentoring unterstützen. Gleichzeitig braucht es in den Unternehmen neue Ideen für moderne Arbeitszeit- und Kommunikationsmodelle und eine veränderte Haltung zum Thema Altersteilzeit, Vorruhestand und Co.
Weil wir uns alle in dieser gigantischen Transformation befinden, gebe ich deshalb heute auch einfach mal eine Buchempfehlung: „Freiheit für alle“ von Richard David Precht.
Viel Freude beim Lesen und den kontroversen Gedanken.
Herzlichst
Ihre Wiebke Marschner