Es ist wieder ein hervorragendes Beispiel dafür, was die Mimik verrät: Andrea ist Abteilungsleiterin in einem mittelständischen Unternehmen. Sie kommt zu mir ins Coaching, weil sie die Arbeitstage so stressen, dass ihr häufig ganz schlecht ist und sie keinen Schlaf mehr findet. „Mir ist Sonntag morgens beim Aufwachen schon übel, wenn ich nur daran denke am nächsten Tag wieder ins Büro zu müssen.“
Die eigene Situatioon benennen können
Ich bitte sie Situationen zu beschreiben, die ihr besonders zusetzen, um herauszufinden, was der Auslöser ist. Schnell sind wir bei einem der Geschäftsführer angelangt mit dem es häufig zu Diskussionen und Ärger kommt. Fasziniert beobachte ich, dass kurz ihre Augenbrauen-Innenseite zuckt. Das ist kein Hinweis auf Ärger, sondern auf Trauer. „Wenn ich es richtig sehe, macht Sie die Situation traurig?“ Andrea sagt direkt: „Ja, ja das stimmt.“
„Traurig? Das war mir gar nicht bewusst. Aber er ist erst seit kurzem in der Position und meint er müsse das, wofür wir stehen, über den Haufen schmeißen. Das macht mich traurig. Als wäre das, was wir bisher getan haben, nichts wert.“
Trauer wird weltweit bei allen Menschen beim Verlust einer geliebten Person oder eines geliebten Objektes ausgelöst. Es kann sich auch um unerfüllte Erwartungen handeln, die wir in Bezug auf eine Situation oder einen anderen Menschen haben. Selbst die gedankliche Vorwegnahme eines Verlustes kann uns traurig machen.
Die Mikroexpression in Andreas Gesicht hat etwa 100 Millisekunden angedauert. Hätte ich sie übersehen, wären wir möglicherweise gar nicht zu diesem Punkt vorgedrungen.
Friedrich Merz und die Kanzlerin
Situationswechsel: Am 31. Oktober 2018 gibt Friedrich Merz seine erste Pressekonferenz, nachdem er angekündigt hat für den Parteivorsitz der CDU am 7. Dezember zu kandidieren. Ein Journalist stellt ihm die Frage: „Funktioniert das mit der Kanzlerin und Ihnen bis 2021?“.
Friedrich Merz antwortet darauf: „Ich bin der festen Überzeugung, dass Angela Merkel und ich unter den veränderten Rahmenbedingungen klar kommen werden.“ Nachdem er den Satz beendet hat, passiert etwas Interessantes in seiner Mimik. Er presst für ca. 80 Millisekunden seinen linken Mundwinkel ein. Ein Zeichen von Geringschätzung.
Was wäre passiert, wenn der Journalist dieses Zeichen gesehen hätte und in der Lage gewesen wäre das gesehene mit einer Resonanzaussage zurück zu koppeln? Friedrich Merz wäre dann jedenfalls nicht direkt zum nächsten Thema gesprungen.
Sherlock Holmes wurde einmal gefragt, was das Geheimnis seiner präzisen Wahrnehmung ist. Sir Arthur Conan Doyle ließ seine Figur antworten: „Ich habe gelernt, das, was ich sehe, auch wahrzunehmen!“
Wahrnehmen, was man sieht
Mach du es genauso! Denn in einer Studie aus dem Jahr 2007 an der Universität von Kalifornien entdeckten Forscher, dass das bloße Benennen von Emotionen uns hilft unangenehme Gefühle zu regulieren. Vorausgesetzt das Gefühl wird richtig benannt. In diesem Fall fährt sofort die Aktivität in unserem Emotionszentrum herunter und im Präfrontalen Cortex herauf. Dieser Hirnbereich ist für unser situationsangemessenes Handeln zuständig, und er reguliert emotionale Prozesse.
Die psychologische Forschung hat elf Emotionen identifiziert, die unser Erleben und Handeln besonders grundlegend beeinflussen: Ärger und Trauer, sowie Überraschung, Angst, Ekel, Verachtung, Freude, Liebe, Schuld, Scham und Interesse.
Bis auf die letzten drei zeigen sich diese Emotionen in der Mimik aller Menschen kulturübergreifend auf die gleiche Weise. Das ist ein erheblicher Vorteil gegenüber körpersprachlichen Signalen, die meist abhängig von der jeweiligen Kultur sind.
Indem du deine Wahrnehmung kontinuierlich auf das Gesicht deines Gegenübers lenkst, wirst du schon bald merken, dass dir Signale auffallen, die dir bisher verborgen blieben. So verbesserst du nicht nur die Gesprächskultur, sondern erhöhst auch die Zufriedenheit bei dir und deinem Gegenüber.